Altsprachler! Post-faktisch an die Front!

Das Oxford English Dictionary, so etwas wie der englische Duden, hat sein Wort des Jahres gekürt: post-truth <-> post-faktisch. Wenn die Meldung so zutrifft, wäre mit postfaktisch endlich mal wieder ein neues Klingelwort für Aufsteiger in akademischen Berufen zur Verfügung. Die Novität der Vorjahre, das Wort prekär, konnte sich leider nicht etablieren und dümpelt in soziologisierenden Nachdenklichkeiten dahin. Jetzt also post-truth. Angela Merkel hatte das Neuwort ein wenig voreilig geadelt, als sie von postfaktischer Politik sprach. Gewissenhafte Forensiker könnten sich an ihr ein Beispiel nehmen. Oder doch lieber nicht?






Der alte Seneca wäre mit seinem Latein schnell zu Ende gewesen, wenn er die kopulierenden Wörter „post“ und „faktisch“ hätte erklären wollen. „Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen, als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst wird? Das meinte jedenfalls die Oxford-Redaktion. Seneca würde erst einmal dagegen anschweigen und sich still daran erinnern, dass für so etwas schon ganz brauchbare andere Wörter vorrätig waren: Täuschungen, Fälschungen, Lügen, Betrügereien. 

Postfaktisches also? Faktisch kommt von facere~tun, machen, schaffen. Faktum ist das Geschaffene, Getane, das Gemachte.



Da hatte also immer irgendein Mensch seine Finger im Spiel. Im Unterschied dazu kommen ja die meisten Tatsachen auf dieser Welt ganz ohne Zutun des Menschen zustande.

Und wie steht es jetzt mit dem post? In schlichtem Alltagslatein benennt post eine zeitliche Position: danach, anschließend, nach all dem, hinterher u.ä. Man konnte dieses post aber auch dazu benutzen, einen eher gedanklichen Standort zu beschreiben: darüber hinaus, jenseits von, für sich genommen u.ä. Cicero zum Beispiel konnte mit beiden Wortbedeutungen sehr gut umgehen.

Die Oxford English Redaktion jedoch ist wahrscheinlich auch nicht mehr das, was man von ihr erwartet. Aus dem danach, hinterher oder anschließend Geschaffenen, macht sie das seltsam altmodische truth. Webster‘s Comprehensive Dictionary erklärt das eher angelsächsische heimische truth mit der aus dem Lateinischen entlehnten conformity. Da werden die gusseisernen, römischen Wurzeln beherzt offengelegt. Leider geht dabei der Bezug zum „Faktischen“ ganz verloren. Nun gilt gleichwohl: Wer schreibt der bleibt. Deswegen bleiben uns zwei Wörterpaare post-truth <-> post-faktisch, die weder jeweils für sich allein noch in der Gegenüberstellung schlüssig zu lesen sind. Deutschsprachige werden vorerst also leben müssen mit dem Postfaktischen. Sie werden sich sogar damit abfinden müssen, dass sie im Feuilleton alle miteinander als „postfaktische Gesellschaft“ verunglimpft werden. Und unter Bauchgrimmen werden privilegierte Menschen „mit Latein“ über Schriftsätzen brüten, in denen staatsanwaltschaftliche Ermittlungen das Postfaktische gern vom Faktischen trennen wollen.

Neue Wörter braucht das Land! Altsprachler! An die Arbeit!

Unser Autor





Georg M. Sieber, Jahr­gang 1935, ist Diplom­psycho­loge in München. 1964 gründete er sein Institut für An­ge­wandte Psycho­logie, die Intelligenz System Trans­fer GmbH (11 Niederlassungen). Sein per­sön­liches Inte­res­sen­gebiet sind die Schrif­ten his­tor­ischer Vor­läufer der heu­ti­gen Psychologie, de Federico II., Machiavelli, Palladio, Ínigo López de Loyola u.a.

Für den fachlichen Austausch steht er gerne zur Verfügung: 089 / 16 88 011 oder per eMail:

Georg.Sieber [at] IST-Muenchen.de

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